Rückblick:
China auf dem Weg in die IT-Diktatur?

14.07.2018




Gäste:

Michael ANTI, Leiter Caixin Globus und einer der bekanntesten politischen Blogger Chinas

Christoph GIESEN, China-Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Peking

HU Yong, Journalismus-Professor an der Peking-Universität und chinesischer Internetpionier

Anne RENZENBRINK, Pressereferentin mit Schwerpunkt Asien bei Reporter ohne Grenzen


Moderation:

Anna MAROHN, Redakteurin und Reporterin für den Newsroom des NDR


Befindet sich China auf dem Weg in die IT-Diktatur? Über das neue chinesische Sozialkreditsystem und die massive digitale Überwachung von Zivilgesellschaft und Aktivisten diskutierten auf Einladung des Deutsch-Chinesischen Mediennetzwerks e.V. Michael Anti, Christoph Giesen, Hu Yong und Anne Renzenbrink. Die Moderation der Runde, die Teil der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche in Hamburg war, lag bei Anna Marohn.



Vor rund 45 Personen im (über)vollbesetzten Konferenzraum stellte Anti direkt zum Einstieg heraus: „Schon allein, hier auf der Konferenz zu sein, bedeutet, Punkte zu verlieren.“ Der Journalist, der das global ausgerichtete chinesische Magazin Caixin Globus leitet, spielte damit auf das Sozialkreditsystem des Landes an, in dem spätestens bis zum Jahr 2020 alle Bürger des Landes erfasst und „bewertet“ werden sollen. Im Fokus steht dabei nicht nur die digitale Welt, in der der persönliche Punktwert etwa durch den Aufruf von pornographischen oder regierungskritischen Inhalten sinken könnte, sondern auch die analoge.

Ein Beispiel: Mithilfe von mehreren Millionen Kameras im öffentlichen Raum in Verbindung mit Gesichtserkennungs-Software soll künftig belohnt werden können, wer älteren Menschen über die Straße hilft, während es für das Überqueren roter Ampeln Punktabzug gibt. Ein schlechter Punktwert könne beruflich wie privat zu massiven Problemen führen. Beispielsweise indem Personen ohne ausreichende Punktzahl keine Schnellzug- oder Flugtickets mehr kaufen oder Probleme beim Antrag eines Reisepasses bekommen können.



Hu Yong, Professor an der Fakultät für Journalismus und Kommunikation der Peking-Universität, stellte heraus, dass die Einführung des neuen Systems in China nicht öffentlich thematisiert werde: „Es ist ein Art Paradox: Während wir in China nicht darüber reden, sind die Menschen aus westlichen Ländern verängstigt.“ An einen „digitalen Big Brother“ hätten sich Chinas Einwohner längst gewöhnt.

Hu erklärt die ausbleibende öffentliche Debatte mit den unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, der allgemeinen Zufriedenheit über den kontinuierlich gestiegenen Lebensstandard im Land und dem Gefühl der Sicherheit in chinesischen Städten. Anti pflichtete Hu anhand eines Beispiels bei: „Wenn ein Mörder durch die Totalüberwachung innerhalb weniger Stunden gefasst wird, wer möchte das kritisieren?“

Christoph Giesen, China-Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung, bestätigte den Eindruck der chinesischen Diskutanten: „Eine öffentliche Debatte zur Totalüberwachung findet zwar statt – allerdings technisch ausgerichtet, nämlich über die Frage, wie sich das System noch verbessern lässt.“ Der Großteil der Bevölkerung sehe die Bewertung über Kreditpunkte eher als Spiel. Giesen mutmaßte, dass sich so mancher Single zukünftig durch die Nennung seiner hohen Punktzahl auf Dating-Websites Erfolge bei der Partnersuche erhoffe.



Anne Renzenbrink, Asien-Referentin bei Reporter ohne Grenzen, befürchtet, dass sich die Lage im Land verändert: „Die Kriterien und Mechanismen hinter dem neuen System sind noch völlig undurchsichtig, die Strafen für kritische Blogger und Journalisten bereits seit dem Amtsantritt Xi Jinpings als Präsident 2013 massiv gestiegen“. Ebensowenig würden gesicherte Informationen darüber vorliegen, ob das Sozialkreditsystem auch auf Ausländer angewandt werde, die sich in China aufhalten – eine Frage, die der in Peking lebende Giesen mit einem „Ja, ich gehe davon aus“ beantwortet.

Zum Abschluss der Diskussion stellte Anti heraus, wo der Unterschied zwischen China und westlichen Staaten liege: „Alle Regierungen wollen Daten. Der Unterschied liegt lediglich in guten Rechtssystemen, die das Sammeln einschränken oder verbieten“.


Text: Sonja Broy

Fotos: Jonas Walzberg


Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Recherche e.V.




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