Rückblick:
Journalismus in China – Der riskante Balanceakt zwischen erwünschten und unerwünschten Enthüllungen
30.06.2013
Gäste:
YU Chen, der bei der liberalen Zeitung Southern Metropolis Daily in Guangzhou eine Reihe von Enthüllungsgeschichten, u.a. über AIDS-verseuchte Blutkonserven, veröffentlichte
ZHAN Jiang, Journalismusprofessor in Peking und einer der anerkanntesten Experten für investigativen Journalismus in China
Felix LEE, Korrespondent für die taz und andere deutschsprachige Medien in Peking
Moderator:
Andreas CICHOWICZ, NDR-Chefredakteur und Moderator des ARD-“Weltspiegel“
Zeit:
15.6.2013, Hamburg
Investigativer Journalismus in China? Gibt es. Immer mehr davon. Vor allem aus zwei Gründen, wie Zhan Jiang bei der Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Netzwerk Recherche-Jahreskonferenz 2013 darlegte: „Die Kommunistische Partei hat heute nicht mehr den Anspruch, alles zu kontrollieren. Sondern nur noch die zentralen Themen.“ Zudem seien Enthüllungsgeschichten etwa über Korruption inzwischen nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht – insofern sie eine gewisse Machtebene innerhalb der Partei nicht überschreiten.
Auf diese Weise kann die KP-Zentrale indirekt Kontrolle über ihre lokalen oder regionalen Parteikader ausüben und Amtsmissbrauch ahnden. Die sozialen Medien spielten hierbei eine zentrale Rolle, da sie die traditionellen Medien – die noch immer mehr oder weniger der Kontrolle der KP unterliegen – vor sich hertreiben würden. Diese müssten die wichtigsten Themen aufgreifen, um ihre Glaubwürdigkeit nicht völlig einzubüßen, so Zhan.
Investigative Reportagen über höchste Regierungskreise, wie etwa der New York Times-Artikel über das immense Vermögen, das die Familie des früheren Premierministers Wen Jiabao angehäuft hat, seien allerdings nach wie vor ein klares Tabu, so Zhan. Zu diesen eindeutigen Tabuthemen gehörten auch religiöse oder militärische Angelegenheiten sowie Probleme mit Minderheiten.
Yu Chen sagte, der Alltag von Journalisten in China sei geprägt von roten Linien. Manche, wie die eben genannten, seien für alle sichtbar. Andere seien unsichtbar und schwer einzuschätzen selbst für erfahrene Journalisten wie ihn: „Die können heute existieren und morgen vielleicht schon nicht mehr. Es gibt zahllose Fälle, in denen ich mit meiner Einschätzung falsch lag.“ Es gebe immer wieder große Überraschungen – in der einen wie in der anderen Richtung.
Wer eine der sichtbaren, also offiziellen und dauerhaften, roten Linien überschreite, gehe aber jedenfalls ein sehr hohes Risiko ein, seinen Job oder seine Freiheit zu verlieren. Vor einigen Tagen erst sei ein Kollege, Du Bin, verhaftet worden. Du hatte kurz zuvor einen Dokumentarfilm über Folter in dem chinesischen Arbeitslager Masanjia und ein Buch über die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz 1989 veröffentlicht. „Er ist der vierte oder fünfte Kollege, der dieses Jahr festgenommen wurde“, so Yu.
Felix Lee erzählte, dass es unter den Journalisten in China bisweilen zu einer Arbeitsteilung komme: „Wir ausländischen Korrespondenten sind meistens nicht die, die große investigative Leistungen vollbringen. Das sind vor allem junge chinesische Journalisten. Wir sind dann eben die, die die Ergebnisse eher veröffentlichen können.“ Der Quellenschutz sei unter diesen Umständen ein zentrales Problem.
Auch geht Lee davon aus, dass er und seine Korrespondenten-Kollegen überwacht werden. Aber in Peking zumindest und in anderen großen Städten fühle er sich relativ sicher. In den Provinzen dagegen müsse man manchmal um seine körperliche Unversehrtheit fürchten, wie Anfang des Jahres ein ARD-Fernsehteam zu spüren bekam, das von einem Schlägertrupp angegriffen wurde.
Dass auch deutsche Medien nicht frei von äußeren Einflüssen sind, habe er in China ebenfalls sehen können. Eines der augenscheinlichsten Themen in dieser Hinsicht, so Lee, waren die Qualitätsprobleme, mit denen deutsche Autohersteller in China zu kämpfen hatten. „Diese Probleme gab es über einen längeren Zeitraum. Aber in vielen deutschen Medien wurden sie heruntergespielt oder schnell abmoderiert.“ Für Lee ein Zeichen dafür, wie viel Macht die Autoindustrie in der deutschen Medienlandschaft hat.
Text: Markus Wanzeck
Fotos: Wulf Rohwedder
Links:
Website der Netzwerk Recherche-Jahreskonferenz 2013
New York Times-Artikel über die Verhaftung von Du Bin
Veranstaltungsbericht des Schweizer Mediendienstes Klein Report